Hat spezielle Erinnerungen an das DFB-Team und Wembley: England-Coach Gareth Southgate. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Mike Egerton/PA Wire/dpa)

Dieser Schuss wird ihn für immer verfolgen. Gareth Southgate weiß das, aber er hat gelernt, damit zu leben. Am 26. Juni 1996 toben und bangen 75.862 Zuschauer im Wembley-Stadion, um kurz nach 22 Uhr Ortszeit starren sie auf Gareth Southgate.

England und Deutschland liefern sich im Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft einen Nervenkrimi bis zum Elfmeterschießen, alle haben bisher getroffen, nun tritt Southgate als sechster Schütze der Three Lions an.

In den Sekunden vor seinem Strafstoß wird es seltsam still in Londons Fußball-Tempel, aus dem Raunen wird ein Staunen, wie das so oft vorkommt beim finalen Showdown vom Punkt. Southgate läuft an, kurze schnelle Schritte, Wembley hält den Atem an – und Andreas Köpke hält den Ball. Southgates Schuss nach links unten wehrt Deutschlands Torhüter mit einem Reflex ab, jetzt toben nur noch die deutschen Fans. Andreas Möller schießt die DFB-Auswahl kurz darauf ins Finale. Southgate schlägt die Hände hinter dem Kopf zusammen.

«Die herausforderndste Situation»

«Das war in meinem beruflichen Leben die herausforderndste Situation, die ich je erlebt habe», sagte der heutige Nationaltrainer Englands vor einigen Monaten in einem Gespräch mit Prinz William. «Das Land war in einem emotionalen Freudenrausch, und dann gehst du nach dem Spiel mit dem Gefühl nach Hause, dass du die Person bist, die das alles beendet hat.» Erst die Zeit habe ihm geholfen, aus einer anderen Perspektive auf die Dinge schauen zu können. Und sie könnte ihm auch jetzt helfen, ein wenig Wiedergutmachung zu betreiben.

Fast auf den Tag genau 25 Jahre später trifft Southgate mit seiner Mannschaft am Dienstag (18.00 Uhr) im EM-Achtelfinale erneut auf die Deutschen. Wieder spielen beide Teams in Wembley gegeneinander, und wieder geht es um Alles oder Nichts. Das Duell mit dem Erzrivalen soll nur eine Zwischenstation sein für die Engländer, deren Fans sich seit 55 Jahren nach einem großen Titel der Nationalmannschaft sehnen. Southgate wird zwar diesmal bei einem möglichen Elfmeterschießen nicht antreten müssen. Aber der 50-Jährige weiß genau, dass er bei einem K.o. als Erster angezählt würde.

Es kümmert ihn nur nicht. Der frühere Verteidiger hat gelernt, mit dem Scheitern umzugehen. «Wenn du so einen Mist gebaut hast wie ich, und wenn dir dann klar wird, dass du beruflich durch ganz schwere Zeiten musst, befreit dich das schon wieder nach dem Motto: Ich stürze mich jetzt einfach voll ins Leben!», sagte er.

Ballast von 1996 abgelegt

Southgate ist es gelungen, nach der EM 1996 Ballast abzulegen und sich gewissermaßen selbst zu befreien. Oder wie es sein einst alkoholkranker Ex-Teamkollege Paul Gascoigne sagte: «Ich habe 1996 meinen Elfmeter verwandelt und bin später in der Reha geendet. Er hat verschossen und wird Nationaltrainer.»

Wer Southgate in diesen Tagen vor dem Deutschland-Spiel sieht oder hört, erlebt einen ruhigen, stets eloquenten Mann. Beim Training am Freitag stand er lässig mit den Händen in den Taschen auf dem Rasen und lauschte seinen Co-Trainern, die der Mannschaft Anweisungen gaben. Schon seit Beginn der EM monieren etliche Fans und Experten die biedere Spielweise der Three Lions, trotzdem überstanden die Engländer ihre Gruppe ohne Gegentor. Immer wieder fordern sie auf der Insel neue Aufstellungen und Formationen, Southgate bekommt nichts davon mit. Er liest während der EM keine Zeitungen und schaut keine Nachrichten. Es konzentriert sich nur auf sich. Und auf Deutschland.

Von Nils Bastek, dpa
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