Freut sich auf das Spiel gegen die Türkei im Olympiastadion: Bundestrainer Julian Nagelsmann. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Arne Dedert/dpa)

Gleich nach der Ankunft in Berlin konnte Julian Nagelsmann die besondere Energie an seinem großen Sehnsuchtsort spüren.

Unweit des Teamhotels am Marlene-Dietrich-Platz im Herzen der Hauptstadt wurde demonstriert. Sicherheitsvorkehrungen waren im nahen Regierungsviertel auch wegen des parallelen Besuchs des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan getroffen. Berlin vibriert immer. Und Nagelsmann tut das auf sportliche Weise auch. Erst recht vor der emotionsgeladenen Heimpremiere als Bundestrainer mit dem Herzschlag-Test der Fußball-Nationalmannschaft gegen die Türkei im pickepackevollen Olympiastadion. 

«Es ist ja immer schön, wenn du diese Emotionalität auf den Rängen spürst. Wir freuen uns auch, wenn die deutschen Fans laut mitgrölen und den türkischen Fans auf der Tribüne Kontra bieten, das ist klar», sagte Nagelsmann vor dem nächsten EM-Härtetest am Samstag (20.45 Uhr/RTL). In 239 Tagen will der Bundestrainer dann wieder im Olympiastadion sein – 14. Juli 2024. EM-Finale. Einen besseren Ort für sein erstes Heimspiel als DFB-Chefcoach hätte sich der 36-Jährige also kaum wünschen können. 

Wenige Stunden nach der Landung am BER südöstlich der Stadt ging es am Freitag zur ersten Inspektion in die Final-Arena. Abschlusstraining und letzter Feinschliff. Schon an drei Übungstagen auf dem DFB-Campus in Frankfurt hatte Nagelsmann sein November-Motto verdeutlicht. Die Nationalmannschaft muss nach dem Mutmacher-Start mit neuem Chefcoach in den USA im Oktober jetzt auch die notwendige Turnier-Stabilität bekommen. 

Defensive als Knackpunkt

«Wir müssen in der Defensive variabler werden. Wir versuchen, uns mannschaftstaktisch weiterzuentwickeln, dass wir insgesamt weniger Torgefahr zulassen. Dass die Torhüter weniger zu tun haben. Dass wir die sehr gute Offensive, die wir haben, weiterhin als Prunkstück sehen, aber dadurch trotzdem eine gewisse defensive Stabilität brauchen» erklärte Nagelsmann seine zweite EM-Lektion für den offenbar von seinen Rückenschmerzen gerade noch rechtzeitig befreiten Mats Hummels und dessen Kollegen. 

Ohne Gegentor blieb Deutschland in diesem Jahr in bislang neun Länderspielen nur beim 2:0 im März gegen Peru. In den acht weiteren Spielen lag der Gegentore-Schnitt über zwei pro Partie – zu viel für Titelambitionen. «Ja, wir wissen natürlich, dass wir noch einige 
Schritte nach vorn machen müssen bis nächsten Sommer, aber das traue ich uns und auch voll und ganz zu», sagte Ilkay Gündogan. 

Für den DFB-Kapitän ist das erste Länderspiel gegen das Land seiner Vorfahren natürlich ein Karriere-Highlight. «Ich hoffe auf ein großartiges Fußballfest. Ich bin mir sicher, dass beide Mannschaften extrem motiviert sein werden und es kaum eine Rolle spielen wird, dass es sich nicht um ein Pflichtspiel handelt. Beide Mannschaften werden zeigen wollen, dass sie bereit sind für die EM nächstes Jahr», sagte der 33-Jährige der Deutschen Presse-Agentur.

Keine Statements zur Politik

Jede politische Konnotation vermied Gündogan. Die von außen herangetragenen Themen wie die Erinnerung an die Erdogan-Fotos vor gut fünf Jahren oder die aktuelle politische Brisanz durch den Gaza-Krieg dürfen für alle Nationalspieler nicht in den Mittelpunkt rücken und für Gündogan erst recht nicht.

Offiziell sagt es niemand, aber heilfroh ist man beim DFB, dass Erdogan nach seinen Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinen Berlin-Besuch nicht mal eben verlängert und am Samstagabend medienwirksam im Olympiastadion sitzt. Das hätte den Fokus vom Sportlichen mal wieder massiv abgelenkt.

Die erwartete Auswärtsspiel-Kulisse mit Zehntausenden türkischen Fans spornt Nagelsmann hingegen richtig an. Auch Leon Goretzka gefällt die spezielle Atmosphäre. «Extrem beeindruckend» nannte der Bayern-Profi die Leidenschaft der Gäste-Fans. Widerstände tun dem DFB-Team im EM-Vorlauf sicherlich gut. Komfortzonen hat Nagelsmann ohnehin mit einem straffen, taktisch anspruchsvollen Trainingsprogramm abgeschafft. 

Die auf dem DFB-Campus eingespielte Musik zum Aufwärmen ist ein Mosaik der neuen Kultur beim Nationalteam. Vieles ist unter Nagelsmann lockerer geworden. Vieles wirkt aber auch viel stringenter und fokussierter. «Unsere Ziele werden wir erreichen, wenn wir jetzt besser werden», postulierte Torgarant Niclas Füllkrug die Mentalität. 

Kimmich muss liefern

Einige Fragen stellen sich noch für Nagelsmann. Ist Hummels‘ Rücken stabil genug für den Startelf-Einsatz? Wer verteidigt hinten rechts? Vermutlich wieder ein gelernter Innenverteidiger. Jonathan Tah, der mit Leverkusen im Flow ist, oder BVB-Ersatzmann Niklas Süle, den Nagelsmann beim Nationalteam Richtung EM hochpäppeln will? Joshua Kimmich ist dem Vernehmen nach keine Option für eine schiefe Viererkette mit einem defensiveren rechten Verteidiger und einer offensiveren linken Variante, für die Benjamin Henrichs erster Kandidat ist. 

Kimmich soll nach seinem Fieber-Ausfall im Oktober in der Zentrale wieder neben Gündogan als Lenker ran. Der Druck für den Bayern-Profi mit Führungsanspruch ist auch im möglichen 81. Länderspiel existent. In seiner Abwesenheit funktionierte der bescheidene Ersatzmann Pascal Groß gegen die USA (3:1) und Mexiko (2:2) dort ganz famos. Funktioniert das Duo Kimmich/Gündogan am Samstag nicht, ist die Debatte um die Rollenverteilung programmiert.

Gesucht wird auch noch ein Platzhalter für den verletzten Jamal Musiala auf der offensiveren Mittelfeldposition neben Florian Wirtz. Dessen Bayer-Kollege Jonas Hofmann hat im Vergleich zu Arsenals Kai Havertz derzeit einen klaren Formvorsprung.

Arne Richter und Jan Mies, dpa
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