Will mit England ins EM-Finale: Gareth Southgate. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Frank Augstein/Pool AP/dpa)

Ja, es ist wahr. Englands Trainer Gareth Southgate gab sich zwar die allergrößte Mühe, diesen historischen Sieg nur als Etappenziel zu bewerten. Doch die mächtige Welle der Euphorie und Erleichterung in seinem Land kann auch der 50-Jährige nicht stoppen.

«Nein, es ist kein Traum. Wir haben Deutschland wirklich geschlagen», titelte der «Daily Express» nach der 2:0-Erlösung der Three Lions im Achtelfinale der Fußball-Europameisterschaft. Der «Daily Star» gab sogar eine «historische Souvenirausgabe» heraus. «England HAT NICHT gegen Deutschland verloren», stand auf der Titelseite. Nach 55 Jahren der Geduld und des Schmerzes träumt England nun von mehr.

Mehr als 40.000 hauptsächlich englische Fans flippten nach dem Abpfiff in Wembley aus und verwandelten den Fußball-Tempel in eine Party-Hölle. In den Pubs bespritzten sich die Menschen mit unzähligen Litern Bier, danach lagen sie sich vor Freude in den Armen. Seit 1966 konnte England bei einem großen Turnier kein K.o.-Spiel mehr gegen die DFB-Auswahl gewinnen. Jetzt ist die Chance auf den ersehnten Titel plötzlich so groß wie nie zuvor. Der Weg zurück in den Final-Spielort London könnte für die Three Lions kaum leichter sein. Im Viertelfinale am Samstag (21.00 Uhr) in Rom geht es gegen die Ukraine. Im Halbfinale wäre Tschechien oder Dänemark der Gegner.

Southgate nach Sieg erleichtert

Southgate befindet sich aufgrund dieser Konstellation schon jetzt auf einer Gratwanderung. «Diese Spieler sind dabei, Geschichte zu schreiben. Wir waren noch nie in einem EM-Finale. Sie haben noch immer die Chance, etwas Spezielles zu erreichen», sagte der nach dem Erfolg gegen Deutschland erleichterte Southgate. Doch der mahnende Southgate weiß auch um die Brisanz der Situation: «Das ist ein gefährlicher Moment für uns. Das Gefühl des Erfolgs, die Stimmung im Land – wir dürfen aber nicht nachlassen.» Der Sieg gegen die Deutschen soll nur ein Schritt gewesen sein. «Wir sind hier mit einem Ziel angetreten, und das haben wir noch nicht erreicht.»

11. Juli, Wembley, 60.000 Fans im Rücken – das ist das Sehnsuchtsziel der Engländer bei diesem Turnier. Der Sieg gegen Deutschland war für den permanent kritisch und misstrauisch beäugten Southgate die endgültige Bestätigung, dass sein Weg der richtige ist. Ein Sieg im Finale in London wäre für den stets so besonnenen Ex-Profi der Ritterschlag. Wie oft wurde bei diesem Turnier von Fans und Medien nicht schon moniert, dass der 50-Jährige zu defensiv spielen lässt. Gegen Deutschland ließ er sogar erstmals bei der EM eine Dreierkette auflaufen. Jadon Sancho, Phil Foden oder Marcus Rashford – alle nur auf der Bank! Unglaublich, dachten nicht wenige.

England ohne Spektakel erfolgreich

Aber Southgate behielt recht. «Southgate besitzt eine der wichtigsten Eigenschaften für Trainer auf dem allerhöchsten Level. Er ist sich immer selbst treu», schrieb Ex-Nationalspieler Jamie Carragher am Mittwoch im «Telegraph». «Er bedient nicht die öffentliche Bühne. Und anders als einige seiner Vorgänger lässt er sich nicht von den Medien beeinflussen, wenn er seine Mannschaft aufstellt.» Southgate zieht sein Ding durch. England spielt bei der EM nicht mit Spektakel. Aber England gewinnt seine Spiele. Bislang haben die Three Lions noch kein Gegentor kassiert. Southgate kümmert sich nicht darum, was Andere sagen.

Genau darum hielt er auch immer an seinem Kapitän Harry Kane sowie an Flügelstürmer Raheem Sterling fest. Kane hatte in der Vorrunde nicht ein Tor erzielt, Sterling zuvor bei Manchester City keine einfache Saison erlebt. Southgate gab sie nie auf – und wird dafür nun belohnt. Erst schockte Sterling Deutschland mit seinem bereits dritten Turniertor in der 75. Minute, elf Minuten später erlöste Kane mit seinem Kopfballtreffer sich selbst und eine ganze Nation. «Ich bin Stürmer, Angreifer, manchmal dauert es zwei Tage, manchmal fünf – aber du weißt, du wirst wieder treffen», sagte Kane. In der heißen Phase des Turniers will der 27-Jährige nun durchstarten.

Das muss er auch, denn England ist noch nicht fertig. Die Ukraine am Samstag hört sich zunächst mal nach einem vergleichsweise leichten Gegner an, doch gegen die Mannschaft des ehemaligen Weltklassestürmers Andrej Schewtschenko wird Kane sicher nur wenige Räume bekommen. Ob Southgate gegen das Überraschungsteam des Turniers darum ausnahmsweise seine gesamte Offensivabteilung aufbieten wird, bleibt abzuwarten. Ganz sicher ist nur: Der Coach wird sich nicht treiben lassen. Nicht von den Fans. Und erst recht nicht von den Medien.

Von Nils Bastek, dpa
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