2024 findet in Deutschland die Fußball-EM statt. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Tom Weller/dpa)

Bei Jürgen Klinsmann rief Angela Merkel persönlich an. Im grauen März 2006 nach dem 1:4 gegen Italien, erzählte der damalige Bundestrainer einst, als die Stimmung am Tiefpunkt war, das spätere Sommermärchen der Heim-WM «fast kaputt getreten», habe sich die Kanzlerin gemeldet mit: «Jürgen, kann ich irgendwie helfen?» Ob Olaf Scholz die Nummer von Hansi Flick hat?

An diesem Mittwoch (9.00 Uhr), keine zwei Tage nach dem enttäuschenden 3:3 der DFB-Auswahl gegen die Ukraine, spricht der aktuelle Bundeskanzler in Berlin bei einem seiner wenigen Termine mit direktem Fußball-Bezug über die Heim-EM 2024. Exakt ein Jahr vor dem Anpfiff eine Art Pflichttermin für alle Beteiligten. Innenministerin Nancy Faeser warb in einem «Kicker»-Gastbeitrag vorab für ein «“Heimspiel für Europa“ bei uns in Deutschland». Vor 17 Jahren war «Die Welt zu Gast bei Freunden».

Das Verhältnis zwischen Bundesregierung und DFB galt in den vergangenen Wochen als zumindest nicht völlig entspannt, es entstand der Eindruck des Neben- statt des Miteinanders vor dem Großturnier. Verbandspräsident Bernd Neuendorf äußerte zuletzt mehrfach öffentlich den Wunsch nach mehr Engagement und finanzieller Unterstützung. Die von Klinsmann im «Spiegel» berichtete Merkel-Episode ist allerdings auch ein hoher Maßstab. Und das Sommermärchen sowieso.

Rahmenbedingungen anders als 2006

«Die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind natürlich andere als 2006», sagte der Kölner Universitätsprofessor Christoph Breuer der Deutschen Presse-Agentur. «Wissenschaftlich gesprochen ist der Stimulus nicht der gleiche, und auch der Organismus beziehungsweise die Gesellschaft, auf den der Stimulus trifft, nicht der/die Gleiche, sodass kaum gleiche Effekte erwartet werden können.»

Die 51 EM-Spiele von 24 Nationen in zehn Spielorten vom 14. Juni bis zum 14. Juli werden bestenfalls kurz nach einem, möglicherweise aber auch während eines Krieges in Europa ausgerichtet. Erwartet werden Millionen Gäste, die auch wieder auf Fanmeilen feiern können. Das Gefühl der Unbeschwertheit, das (teils inzwischen verklärt) den WM-Sommer 2006 zum deutschen Märchen gemacht hat, ist aber kaum wiederholbar. «Wir leben in turbulenten und unsicheren Zeiten», sagte Breuer, Leiter des Instituts für Sportökonomie und Sportmanagement an der DSHS Köln. «Da ist verständlich, dass die Politik auch andere wichtige Themen verhandelt und Budgets anders verteilt.»

Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums verwies auf dpa-Anfrage auf einen «regelmäßigen, intensiven und vertrauensvollen Austausch» mit den Organisatoren. Der DFB und die Europäische Fußball-Union UEFA organisieren das Turnier mit einem Joint Venture, der EURO GmbH, gemeinsam. 2006 war der Bund mit enormen Investitionen allein in die Stadien viel mehr Mitausrichter. «Möge die Stimmung, mit der wir uns als Deutsche der Welt präsentiert haben, weit über diesen Sommer hinausreichen!», wurde Merkel im Abschlussbericht zitiert.

Umfangreiches Kulturprogramm

Die EM 2024 begleite die Bundesregierung «ressortübergreifend mit einem umfangreichen Kulturprogramm und Begleitprojekten», teilte das BMI mit. «Das Kulturprogramm hat einen Umfang von 13 Millionen Euro. Allein im Haushalt des BMI sind für die Begleitprojekte 10 Millionen Euro vorgesehen.» Ein Beispiel sei ein «attraktives» und qualifizierendes Programm für die rund 16.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Direkt und unmittelbar mit den EM-Kosten verbunden sind die Zahlungen nicht. 

Die UEFA hatte im Finanzjahr 2015/16, in das auch die Einnahmen durch die EM in Frankreich fielen, nach eigenen Angaben einen Gewinn von 102,1 Millionen Euro verzeichnet. Die Zahlen aus 2021, als das Turnier über den Kontinent verteilt und unter Corona-Einfluss gespielt worden war, sind schwerer vergleichbar.

Die EM-Organisatoren sind sich der besonderen Herausforderung vor der EM sehr bewusst. 2005 habe in Deutschland bereits der inzwischen abgeschaffte Confed Cup stattgefunden, erinnerte EM-Turnierchef Philipp Lahm im dpa-Interview. «Somit standen auch zwölf Monate vor der Weltmeisterschaft die WM 2006 und der Fußball in Deutschland schon im Fokus. Jetzt ist die Situation eine andere: Die WM in Katar hat erst vor einem halben Jahr stattgefunden. Zudem ist leider aktuell sehr viel los in der Welt und viele andere, teilweise noch relevantere Themen stehen nachvollziehbarerweise im Vordergrund.»

Gleichgültigkeit der Fans

Dazu kommt die gewisse Gleichgültigkeit, die viele Fans inzwischen der Nationalmannschaft gegenüber empfinden. Nach dem Vorrunden-Aus in Katar, dem zweiten in Folge nach der verpatzten WM 2018 und Russland, sei die Stimmung rund um die DFB-Auswahl «auf einem Tiefpunkt», sagte Fan-Vertreter Markus Sotirianos vom Bündnis «Unsere Kurve» der dpa. «Vor der EM 2024 stellen wir aber auch fest, dass die Kritik beim DFB gehört wird, und der Verband versucht, diese Nähe in Sachen Nationalmannschaft wieder herzustellen.»

Der neue DFB-Sportdirektor Rudi Völler predigt seit seinem Amtsantritt zu Beginn des Jahres, dass sich Begeisterung nur mit erfolgreichen Auftritten der Auswahl von Bundestrainer Flick wieder einstellen werde. Das Ukraine-Remis hilft dabei nur wenig. Die Nationalmannschaft spielt vor der Sommerpause noch an diesem Freitag in Warschau gegen Polen und am folgenden Dienstag in Gelsenkirchen gegen Kolumbien. «Wir wollen eine Begeisterung entfachen, das ist klar», sagte Nationalspieler Niclas Füllkrug. «Das versuchen wir auch. Aber es darf auf keinen Fall künstlich sein.»

Für den Sommermärchen-Erfolg der WM 2006 seien drei Faktoren in Kombination verantwortlich gewesen, sagte Breuer. «Tolle Organisation, sportlicher Erfolg und klasse Wetter. Es ist somit zunächst einmal zu prüfen, ob diese Faktoren wieder gegeben sind.» Am unsichersten, sagte der Experte, «dürfte der sportliche Erfolg sein».

Jan Mies und Klaus Bergmann, dpa
Folge uns

Von