Der brasilianische Nationalspieler Vinicius Junior brach während einer Pressekonferenz in Tränen aus. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Oscar J. Barroso/AP/dpa)

In zweieinhalb Monaten beginnt in Deutschland die Fußball-EM. Und ein Problem dieses eigentlich so völkerverbindenden Sports beschäftigt die Verbände immer mehr: Der zunehmende Rassismus in den europäischen Stadien.

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat bereits im März ein Anti-Rassismus-Projekt zu seiner Heim-EM gestartet. Der Weltverband FIFA will im Mai bei seinem Kongress in Bangkok eine entsprechende Resolution aller 211 Mitgliedsstaaten verabschieden.

Die Frage ist nur: Reicht Symbolpolitik allein noch aus angesichts der Szenen, die sich in den vergangenen Wochen vor allem in Italien und Spanien gehäuft haben? Oder braucht es andere Maßnahmen wie härtere Strafen und schnellere Spielabbrüche, wenn der Fußball rassistische Vorfälle nachhaltig bekämpfen will?

Rassismus-Forscher: Empfindlichere Strafen könnten helfen

«Was wir beim Fußball sehen, ist nicht nur ein gesamtgesellschaftliches Problem, sondern hat auch mit dem Fußball selbst zu tun: Denn an diesem sozialen Ort wurde viel zu lange nichts gegen Rassismus getan, es wurde jahrzehntelang toleriert, fast schon normalisiert», sagt Rassismus-Forscher Lorenz Narku Laing von der Evangelischen Hochschule Bochum. Empfindlichere Strafen könnten helfen, meint er: «Wir müssen tatsächlich darüber nachdenken, ob man Spiele abbrechen soll und zu Ungunsten der rassistisch agierenden Fanblöcke wertet.»

Der brasilianische Stürmerstar Vinicius Junior von Real Madrid brach in der vergangenen Woche in Tränen aus, als er bei einer Pressekonferenz seines Nationalteams zum Thema Rassismus befragt wurde. Am Osterwochenende forderte der 23-Jährige dann via X, dem früheren Twitter: «Rassisten müssen entlarvt werden und die Spiele dürfen nicht mit ihnen auf der Tribüne fortgesetzt werden.Wir werden nur dann gewinnen, wenn die Rassisten die Stadien direkt ins Gefängnis verlassen, den Platz, den sie verdienen.»

Vinicius ist schon häufiger Opfer rassistischer Anfeindungen geworden – im Stadion und darüber hinaus. 2021 baumelte eine schwarze Puppe mit einem Trikot des Stürmers von einer Brücke in Madrid – aufgehängt wie an einem Galgen.

Von Stadionverboten oder gar Gefängnisstrafen für einzelne Täter ist Forscher Laing aber wenig überzeugt. «Mein Traum ist eigentlich, dass ein Mann, der in der Kurve eine rassistische Beleidigung loslässt, von seinen Mitmenschen gesagt bekommt, dass das nicht geht. Dann sollte der Fall gemeldet werden und dieser Mensch vom Sportverband ein Seminarangebot zum Thema Rassismus bekommen, damit er wirklich für sich verstehen lernt, was das bedeutet, wie sehr es Menschen verletzt.»

Die Wahl müsse am Ende sein: Stadionverbot oder Seminar. «Es geht nicht nur um Rauswürfe, mehr Polizei in Stadien und Verbote, sondern es geht um mehr Empathie, mehr Fairness, mehr Miteinander, Vergebung und tatsächlich eine emotional persönliche Lernreise der Menschen, die sich da falsch verhalten», meint Laing.

Ob die Täter dazu bereit sind? Zumindest in Spaniens vierter Liga setzten die Spieler jüngst ein Zeichen: Der Torwart des Madrider Vorstadt-Clubs Rayo Majadahonda wurde von einem Zuschauer mutmaßlich rassistisch beleidigt, ging auf diesen los und sah dafür die Rote Karte. Aus Solidarität mit dem Senegalesen Cheikh Kane Sarr verließen seine Mitspieler mit ihm das Spielfeld.

In der italienischen Serie A lief es im Januar genau andersherum. Torwart Mike Maignan vom AC Mailand verließ den Platz, weil ihn Fans von Udinese Calcio mit rassistischen Gesängen überzogen hatten. Das Spiel wurde unter-, aber nicht abgebrochen: Die eigenen Teamkollegen überredeten den Franzosen im Kabinengang zum Weitermachen. «Ganz häufig galt die Mentalität: der Fußballer auf dem Platz hat doch hart zu sein, er ist doch ein hochbezahlter Profi», erklärt Laing.

In der Gesellschaft gebe es zwar eine «neue Sensibilität dafür, dass Rassismus falsch ist, auch wenn er Millionären passiert.» Nur fehle es im Fußball noch häufig an diesem Bewusstsein. «Es ist ein Problem, dass der Fußball es noch nicht schafft, Rassismus als ein eigenes Problem zu begreifen. Entweder distanziert man sich davon, weil man sagt, dass das eben in der Hitze des Gefechts passiert. Oder man distanziert sich davon, weil man es an die Justiz, an die Polizei, die Anwälte, delegiert», erklärt Laing.

Drei-Stufen-Plan zu wenig?

Erst in der vergangenen Woche wurde der italienische Nationalspieler Francesco Acerbi von einem Sportgericht freigesprochen. Er soll den Brasilianer Juan Jesus vom SSC Neapel rassistisch beleidigt haben. Acerbi dementiert dies, sein Verein Inter Mailand verteidigt ihn. Doch der seit zwölf Jahren in Italien spielende Juan Jesus hält an seiner Anschuldigung fest. «Ich bin wirklich entmutigt über den Ausgang dieser ernsten Angelegenheit», sagte der 32-Jährige über das Sportgerichts-Urteil.

Sein Club aus Neapel will sich aus Protest an keiner Anti-Diskriminierungs-Maßnahme des italienischen Verbands mehr beteiligen. Das seien nur noch «rein kosmetische Initiativen», heißt es in einer Stellungnahme des Clubs. «Diese Kampagnen sind natürlich der Versuch, dass der Sport eine klare Haltung zeigt. Und Haltung ist wichtig, aber nicht alles», meint auch Laing.

Doch was soll der Fußball stattdessen tun? Schon 2011 führte der europäische Fußball-Verband UEFA einen Drei-Stufen-Plan ein, der im Fall rassistischer Vorfälle in einem Stadion bis zum Spielabbruch führen kann. Erster Schritt: Spielunterbrechung. Zweiter Schritt: Spieler zeitweise in die Kabine schicken. Dritter Schritt: Abbruch.

Doch das geht selbst dem umstrittenen FIFA-Chef Gianni Infantino offenbar nicht mehr weit genug. «Das Problem ist, dass wir unterschiedliche Wettbewerbe, unterschiedliche Wettbewerbsorganisatoren, unterschiedliche Regeln haben. Und alles, was wir tun, ist offensichtlich nicht mehr genug», sagte der Weltverbands-Präsident im Februar bei einem UEFA-Kongress. Infantino will die Rassismus-Bekämpfung im Mai zum Thema in Bangkok machen: «Wir brauchen eine starke Resolution. Alle zusammen. Alle 211 Länder der FIFA!»

Sebastian Stiekel und David Joram, dpa
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