BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl hat sich zu den Transfergerüchten geäußert. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Bernd Thissen/dpa)

Borussia Dortmund geht mit Zuversicht in die neue Saison. Aus der Enttäuschung im vergangenen Titelkampf, in dem die mögliche Meisterschaft mit einem 2:2 gegen Mainz noch verspielt wurde, will der Vizemeister sogar neue Kraft schöpfen.

Doch anders als die Konkurrenz aus München, Leipzig und Leverkusen hat sich der BVB auf dem Transfermarkt bisher zurückgehalten – begleitet von Schlagzeilen über Uneinigkeit in der Chefetage. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur nimmt Sportdirektor Sebastian Kehl Stellung.

Nach dem jüngsten dramatischen Titelendspurt fürchten viele wieder Langeweile und eine Rückkehr zur unangefochtenen Vormachtstellung des FC Bayern. Andere verweisen auf das 0:3 der Münchner gegen Leipzig im Supercup und erwarten ein enges Meisterrennen. Zu welcher Fraktion gehören Sie?

Sebastian Kehl: Aus dem Supercup vorschnelle Schlüsse auf den Verlauf der Saison zu ziehen, hat sich auch schon verboten, als wir ihn zuletzt gewonnen haben – und wir haben ihn insgesamt sechsmal geholt. Ich glaube, dass mehrere Mannschaften um die deutsche Meisterschaft kämpfen werden und erwarte eine spannende Saison.

Mit der mittlerweile obligatorischen Meisterfeier in München am Ende?

Kehl: Die Bayern sind mit ihren in Deutschland einzigartigen Möglichkeiten natürlich immer Topfavorit. Wir würden das Rennen gern so lange wie möglich offen halten – im besten Fall mit einem besseren Ende für uns als im Mai. Ich bin überzeugt: Kämen wir noch einmal in solch eine Situation, würden wir dieses Finale gewinnen. Aber es gibt sicher auch Clubs wie Leipzig und Leverkusen, mit denen auf jeden Fall zu rechnen sein wird. Nebenbei bemerkt: Spannenderes als in der Bundesliga gab es 2022/23 in keiner einzigen europäischen Top-Liga. Es gibt also überhaupt keinen Grund, immer alles so negativ zu sehen.

Wie groß ist Ihre Sorge, dass sich das Trauma gegen Mainz negativ auf die neue Saison auswirkt?

Kehl: Es gibt genauso viele Beispiele, die zeigen, dass aus einem dramatischen Finale neue Kraft, ein neuer Geist, ein Gemeinschaftsgefühl und die Gier erwachsen, es beim nächsten Mal unbedingt besser machen zu wollen. Zwischen Mannschaft und Fans ist im Mai 2023 ein Band entstanden, das ich im Moment als sehr, sehr besonders empfinde. Auch deshalb sehe ich die Chance, in diesem Jahr gemeinsam etwas zu bewegen.

Die Bayern haben sich namhaft verstärkt. Auch Leipzig und Leverkusen waren auf großer Einkaufstour. Tangiert so etwas eigentlich auch die eigene Personalplanung? Unter dem Motto: Die machen viel, also müssen auch wir uns sputen …

Kehl: Ich würde lügen, wenn ich Ihnen jetzt weismachen wollte, dass mich nicht interessiert, wie die Konkurrenz auf dem Transfermarkt agiert. Aber Druck haben wir deshalb nicht verspürt. Jeder Club hat seine eigenen Themen, seine eigenen Profile, seine eigenen Budgets. Wir Verantwortlichen sind die Einzigen, die eine komplette Innensicht haben und Analysen nicht mit dem Fernglas treffen müssen. Deshalb lassen wir uns auch nicht von außen treiben. Wir haben nach der vergangenen Saison eine sehr klare Analyse erstellt. Darauf basiert ein klarer Plan. Und den setzen wir sukzessive um.

Mit dem Transfer von Harry Kane wurde in der Bundesliga die 100-Millionen-Euro-Grenze erstmals durchbrochen. Ist ein Ende dieser Entwicklung hin zu immer höheren Transfersummen in Sicht? Gibt es ein Limit?

Kehl: Ich habe gelesen, dass Jürgen Klopp vor ein paar Tagen zugegeben hat, dass er sich irrte, als er einst mutmaßte, Liverpool werde nie bereit sein, 100 Millionen Euro in einen einzigen Spieler zu investieren. Warum sollte ich jetzt ein Limit nennen, das in ein paar Jahren ebenfalls von der Realität überholt wird? Nein, ich denke, diese Entwicklungen sind einfach nicht vorhersehbar.

Im Vergleich zur Konkurrenz hat sich der BVB eher zurückhaltend gezeigt und in Sabitzer, Nmecha und Bensebaini erst drei Neue im Kader. Deshalb gab es den Vorwurf, die Einkaufspolitik sei schleppend. Hat Sie das getroffen?

Kehl: Nein, überhaupt nicht. Wir haben im vergangenen Sommer sieben Neue geholt, im Winter zwei, nun noch einmal drei, insgesamt also zwölf. Wenn das zurückhaltend ist – okay. Und mal ganz ehrlich: Selbst wenn wir den absolut perfekten Kader hätten, würde in der heutigen Zeit Druck von außen entstehen. Von den Medien, aus den sozialen Netzwerken heraus, woher auch immer. Manchmal hat man als Verantwortlicher inzwischen das Gefühl, man müsse unbedingt etwas machen – nur um etwas zu machen. Wir haben in diesem Kalenderjahr 46 Punkte geholt, wir haben die meisten Tore aller Clubs in den Top-5-Ligen Europas geschossen. Und wir haben – einer klaren Analyse folgend – drei Nationalspieler verpflichtet. Wenn Sie das als schleppend empfinden, dann ist das so.

Zudem gab es in den vorigen Wochen Meldungen über interne Dissonanzen bezüglich der Transferpolitik. Es hieß, Sie und Edin Terzic hätten unterschiedliche Vorstellungen. Hat Ihr Verhältnis zum Trainer tatsächlich gelitten?

Kehl: Das ist totaler Quatsch. Wir arbeiten täglich sehr gut und eng zusammen und haben uns darüber amüsiert, wie darüber punktuell berichtet wurde und am Ende der eine vom anderen abgeschrieben hat. Grundsätzlich gilt: Reibung wird und muss es immer geben. In jedem Unternehmen. In jedem Verein. Ohne Reibung, ohne unterschiedliche Meinungen, ohne einen argumentativen Austausch entstehen nur Schulterklopfen und Selbstbeweihräucherung. Das wäre kein Nährboden für Erfolg.

Können Felix Nmecha und Marcel Sabitzer die große Lücke schließen, die Jude Bellingham mit seinem Wechsel zu Real Madrid gerissen hat?

Kehl: Jude Bellingham war der zweitteuerste Transfer in der Geschichte des wahrscheinlich erfolgreichsten Vereins der Welt. Dies alleine zeigt, dass er ein sehr besonderer Spieler mit sehr besonderem Potenzial ist. Es wäre anmaßend zu erwarten, dass man ihn mal eben so 1:1 ersetzen kann. Wir lösen solche Aufgaben im Verbund, als Team. Auf unsere Weise. Darin kann auch eine Chance liegen. Nach Erling Haalands Abgang im vergangenen Sommer wurde uns die gleiche Frage gestellt. Und wie viele Tore haben wir 2023 erzielt? Mehr als alle anderen, wir haben die Verantwortung allerdings auf mehrere Schultern verteilt. Sie sehen: es geht.

Welche Kriterien bei Transfers haben Priorität? Täuscht der Eindruck oder gibt es beim BVB einen Trend zu mehr Erfahrung und Körperlichkeit? Und zu weniger Jugend und Spielkunst?

Kehl: Es ist bei einem Club wie dem BVB immer der Mix. Erfahrene Nationalspieler, junge Talente, deren Marktwert wir entwickeln können, physisch starke Arbeiter, kreative Wilde. Es mag sein, dass physische Komponenten und eine gewisse Art von Widerstandsfähigkeit und Wille zuletzt mehr in unseren Fokus geraten sind. Aber trotzdem wissen wir auch, dass wir in unserem Kader Spieler mit Wow-Effekt benötigen, um unsere Fans zu begeistern.

Es heißt, der BVB will noch einen Außen-, einen Innenverteidiger und einen Angreifer verpflichten. Angeblich hat die Suche nach einem Mittelstürmer als Haller-Backup Priorität. Hugo Ekitiké (Paris), Jean-Philippe Mateta (Crystal Palace) und selbst Romelu Lukaku (Chelsea) wurden gehandelt. Ist es tatsächlich denkbar, dass der BVB kurz vor Transferende so hoch ins Regal greift?

Kehl: Mich amüsieren diese Gerüchte. Unsere Medienabteilung macht sich und uns inzwischen jedes Jahr den Spaß, alle Spielernamen zu zählen, die mit uns in Verbindung gebracht werden. In diesem Jahr stehen wir aktuell bei 38 Namen – drei Spieler haben wir de facto geholt.

Aber es stimmt schon, dass der BVB noch den Markt sichtet?

Kehl: Bis zum letzten Tag. Aber wir sind aktuell überhaupt nicht auf eine Position festgelegt. Alles auf einmal wird ohnehin nicht funktionieren. Und verrückte Sachen gehen auch nicht. Wir haben schon in der ersten Juni-Woche transparent kommuniziert, dass wir 60 bis 65 Prozent der Transfersumme von Jude Bellingham, die ebenfalls offen genannt wurde, wieder in den Kader investieren können. Die Zahlen liegen also für jedermann ersichtlich auf dem Tisch. Und sie haben ja selbst erwähnt, dass wir bereits drei Spieler verpflichtet haben. Was das alles über ein Transfer-Gerücht wie das von Ihnen zuletzt Genannte aussagt, können Sie mit dem Taschenrechner ziemlich leicht ergründen.

Die elftägige Tour durch die USA mit Spielen in drei Städten gilt vielen Beobachtern nicht gerade als optimale Saison-Vorbereitung. Dass sich gleich mehrere Profis dabei verletzten, war Wasser auf die Mühlen der Kritiker. War die Reise auch sportlich von Mehrwert?

Kehl: Soweit ich weiß, haben andere Bundesligisten wegen des Wetters und der Qualität der Plätze in Deutschland und Österreich Trainingseinheiten verschieben, absagen oder sogar frühzeitig aus ihrem Trainingsquartier abreisen müssen. Hier herrschte doch Dauerregen. Wir hatten in San Diego erstklassige Bedingungen, gute Einheiten, erstklassige Testspielgegner wie Chelsea und Manchester United, gute Ergebnisse. Natürlich war die Reise anstrengend, natürlich hatten wir auch mal Jetlag, aber wir haben eine Verantwortung für die Entwicklung der Bundesliga und das Generieren internationaler Einnahmen. Dieser werden wir gerecht. Es gab übrigens lediglich eine langwierige Verletzung: die von Thomas Meunier. Und ob die Ursache dieser Verletzung nun unsere Reise in die USA war, wage ich zu bezweifeln. Die Wahrheit ist: Wir hatten während der vergangenen Jahre auch in Bad Ragaz schon Verletzungen.

Langjährige Leitwölfe wie Marco Reus (34) und Mats Hummels (34) rücken mehr ins zweite Glied. Neuer Kapitän nach Marco Reus ist Emre Can (29). Gregor Kobel (25) und Niklas Süle (27) sind seine Stellvertreter. Ist eine andere Hierarchie gewünscht?

Kehl: Wir werden die Erfahrenen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Das wollen sie übrigens auch selbst gar nicht. Und wir werden den Jüngeren mehr Verantwortung übertragen. Funktionierende Hierarchien zu entwickeln, ist die Pflicht der Verantwortlichen. Und es ist ein nie endender Prozess. Emre Can wird ein großartiger Kapitän sein, der auf einen großartigen Kapitän folgt.

Reus und Hummels haben ihre Verträge nur für ein Jahr verlängert. Wird es die letzte Saison der beiden Routiniers in Dortmund?

Kehl: Wir alle setzen uns auch hier keine Limits. Niemand steht unter dem Druck, schnelle Entscheidungen treffen zu müssen. Wir werden mit beiden irgendwann ein vertrauensvolles, offenes Gespräch führen. Das wird sicher nicht früh sein – eher am Ende der Saison.

Einen Tipp zum Saisonverlauf werden wir Ihnen wohl nicht entlocken können. Aber was muss geschehen, damit Sie am Ende der Spielzeit zufrieden sind?

Kehl: Es müsste bei uns alles zusammenpassen und Bayern München müsste mit einem Gehaltsbudget, das unseres bei Weitem überragt, natürlich Fehler machen. Auch diese Rechnung ist kein Hexenwerk. Aber wenn wir an unserem Limit spielen, sind wir zu allem in der Lage.

Von Heinz Büse, dpa
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