Nach dem WM-Aus der deutschen Nationalmannschaft fällt DFB-Präsident Bernd Neuendorf die Rolle des Aufräumers zu. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Tom Weller/dpa)

Nach der Frust-Rückkehr aus Katar beginnt für Hansi Flick und Oliver Bierhoff am zweiten Adventswochenende das Warten. Die Zukunft des Bundestrainers und des DFB-Direktors, die trotz der maximalen WM-Pleite weitermachen wollen, liegt in den Händen von Bernd Neuendorf.

Der Vielen unbekannte Verbandspräsident ist kein Typ für unbedachte Schnellschüsse. Ausgang völlig offen, ist die vorläufige Weihnachtsbotschaft, trotz des immer lauter werdenden Chors an Experten und Ex-Größen, die einen radikalen Schnitt einfordern. 

Bei seinem bislang wichtigsten Auftritt als DFB-Boss verzichtete Neuendorf auf sein Markenzeichen. Die markante schwarze Brille, sonst stets auf dem kahlen Kopf platziert, wurde abgenommen als er noch am Hamad International Airport in Doha die erste Stufe seines Masterplans zur schonungslosen WM-Aufarbeitung vortrug. Eins ist dennoch klar: Hingucken wird der 61-Jährige jetzt ganz genau. Und zuhören, wenn Flick und Bierhoff zum ersten Krisentreffen in der kommenden Woche in Frankfurt einbestellt sind. 

«Meine Erwartung an die sportliche Leitung ist, dass sie zu diesem Treffen eine erste Analyse vornimmt, eine sportliche Analyse dieses Turniers. Dass sie aber auch Perspektiven entwickelt für die Zeit nach dem Turnier mit dem Blick auf die Europameisterschaft im eigenen Land», sagte Neuendorf. Worte, die nach Taten klingen. 

Rolle des Aufräumers

Während die Fußball-Nation im großen Katar-Schmerz noch pendelt zwischen sportlichen Frust über den nächsten Gruppen-K.o. und einer schleichenden emotionalen Abkehr von einer schon wieder gescheiterten Fußball-Nationalmannschaft fällt die Rolle des Aufräumers einem Mann zu, der vor wenigen Monaten im deutschen Fußball-Business noch eine Randfigur vom Mittelrhein war. 

Seine Wahl zum DFB-Präsidenten im März, noch auf Betreiben des mittlerweile in der Versenkung verschwundenen Langzeit-Strippenziehers Rainer Koch, wurde als Signal einer neuen Sachlichkeit verstanden. Tatsächlich tickt Neuendorf anders als seine vielen Vorgänger in der auf Funktionärsebene so konfusen letzten DFB-Dekade. 

Neuendorf ist Politiker, nicht wie Vor-Vorgänger Reinhard Grindel ein auch mal aufbrausender Hinterbänkler aus dem Bundestag, sondern ehemaliger Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen. Einer, der von Berufswegen formalistisch und doch machtorientiert auf Probleme schaut. Emotionen kann man sich bei dem untypischen Rheinländer nicht vorstellen.

Neuendorf redet leise. Man muss sich schon mal weit vorbeugen, wenn man ihn im Gespräch am Kaffeetisch genau verstehen will. Bierhoff hat ihn sicher längst verstanden. Und es dürfte dem DFB-Direktor, dessen puddingweich und komfortmaximal durchgestylter Nationalmannschaftsorbit gerade von allen Seiten attackiert wird, nicht entgangen sein, dass die Indizien nicht auf eine Herzensbindung schließen lassen. 

Als eine seiner ersten wesentlichen Amtshandlungen kassierte Neuendorf den Bierhoff-Begriff «Die Mannschaft» ein, der viele Jahre Sinnbild einer perfektionierten Marketing-Überhöhung der DFB-Elf war. Statt auf Bierhoffs diverse Meinungsumfragen zu bauen, engagierte der Präsident selbst ein renommiertes Marktforschungsinstitut und als die Ergebnisse eindeutig waren, wurde nur er in der Medienmitteilung zitiert, die das Ende des eigentümlichen Spitznamens begründete – nicht Bierhoff. 

Bierhoff und Flick haben Verträge bis zur EM 2024

Neuendorf war in Katar. Aber auf Distanz zum Team. Während sich viele seiner Vorgänger gar nicht eng genug an die Nationalmannschaft kuscheln konnten, hatte der DFB-Chef nicht einmal ein Zimmer im Zulal Wellness Resort hoch im Norden. Neuendorf residierte in Doha im Steigenberger, mit einer kleinen Entourage. Dort wurde schon rasch nach dem 1:2 zum Auftakt gegen Japan eine Krisendiplomatie gestartet. Die Stimmung musste ausgelotet werden. Die Vibration, die nicht ausgesprochen wurde, klang ungefähr so: Wie könnte man Flick als Bundestrainer retten? Eine Rettung Bierhoffs schien nicht oben auf der Agenda. 

Wer nun einen Rauswurf-Automatismus erwartet, liegt falsch. Bierhoff hat im DFB mit weit mehr als von ihm rekrutierten 100 Mitarbeitern seiner Direktion eine Hausmacht. Der Verband muss finanziell abwägen, ob er sich kostspielige Trennungen leisten kann. Bierhoff und Flick haben Verträge bis zur Heim-EM 2024, die auf keinen Fall in einem sportlichen Desaster enden darf. Eine Degradierung Bierhoffs auf die Leitung der Akademie klingt plausibel, ist aber auch risikobehaftet. Er bliebe im Hause. «Es geht hier nicht darum: Wer hat hier Schuld?», lautete eine Aussage des 54-Jährigen, die nicht nach Selbstkritik klang. 

Für Neuendorf ist die Krise eine Chance

Gesucht werden müsste eine Art Sportdirektor. Verfügbare Kandidaten? Vielleicht Rio-Weltmeister Sami Khedira, der sich bei der UEFA fortbildete? Idealtypus wäre Philipp Lahm, doch der muss erst noch die EM im übernächsten Sommer organisieren. DFB-Vize und DFL-Aufsichtsratschef Hans-Joachim Watzke ist zunächst in der Pole-Position für mehr Einfluss. Die Dortmunder Führungskraft als Insider der Profi-Fraktion gleich mit ins Boot zu nehmen und für das Krisentreffen einzuladen, war ein dringend gebotener Zug von Neuendorf.

Im ähnlichen Personal-Dilemma wäre die DFB-Spitze bei einem Aus von Flick. Jürgen Klopp und Thomas Tuchel wären Reflex-Optionen, der eine ist in Liverpool gebunden, der andere hat dem Vernehmen nach gar keine Lust auf den DFB-Job. Vielleicht bleibt Flick auch aus Mangel an vielversprechenden Alternativen, wie Joachim Löw nach dem WM-Desaster 2018.

Für Neuendorf ist die Krise eine Chance. Er selbst musste in Katar viel Funktionärs-Lehrgeld zahlen. Den Wirbel um die One Love-Binde konnte er nicht abbinden. Die FIFA führte den DFB-Boss erst mit Hinhalte-Taktik, dann mit Androhung einer Maximal-Strafe mit einfachen Mitteln vor. Die europäischen Verbündeten aus England und den Niederlanden ließen den prinzipientreuen Deutschen auch im Regen stehen. Neuendorf war der Verlierer an allen Fronten. Daraus dürfte er gelernt haben – für künftige oder ganz aktuelle Krisen. 

Arne Richter, Klaus Bergmann und Jan Mies, dpa
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