Olivier Giroud (r) vom AC Mailand kämpft mit Stefan de Vrij von Inter Mailand um den Ball. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Antonio Calanni/AP/dpa/Archivbild)

Vor Teil zwei des großen Mailänder Fußball-Festes in der Champions League ist Milan die Partylaune vergangen.

Zuerst die Enttäuschung beim 0:2 im Halbfinal-Hinspiel gegen Stadtrivale Inter, dann der nächste peinliche Ausrutscher in der Liga und zu allem Überfluss auch noch eine Fan-Debatte: Die Rossoneri sind drauf und dran, sich just im Schlussspurt ihre ganze Saison zu vermiesen. «Milan droht die Hölle», schrieb die «Gazzetta dello Sport».

Aufholjagd in weiter Ferne

Kaum ein Bild passte besser zum Zustand des einstigen Vorzeigevereins als jenes vom Samstagabend in der ligurischen Hafenstadt La Spezia. Dort hatte Milan gerade gegen den Serie-A-Abstiegskandidaten Spezia Calcio mit 0:2 verloren. Von einem Aufbäumen oder gar Sich-Warm-Schießen für eine erträumte Aufholjagd im Rückspiel der Königsklasse war keine Spur. Nach dem Schlusspfiff trottete das Team samt Trainer Stefano Pioli unter die Gästekurve und ließ sich dort von einem Anführer der Milan-Ultras die Leviten lesen.

Die Profis – darunter gestandene Nationalspieler und sogar ein Weltmeister – wirkten wie aufgereihte Schuljungen, denen der Lehrer nach der nächsten verpatzten Klausur eine deftige Standpauke hält. Die Szene beschäftigt sogar den italienischen Verband. Dieser will klären, was die Ansprache sollte. Fußballern in Italien ist es verboten, in Fankurven zu gehen, um dort – wie es im Verbandskodex heißt – «öffentlich an den Pranger gestellt» zu werden.

Coach Pioli beschwichtigte schnell, dass die Anhänger seine Mannschaft bloß motivieren wollten für das Rückspiel gegen Inter am Dienstagabend (21.00 Uhr/Prime Video): «Unsere Fans haben uns angespornt für das Spiel. Wir haben nur Aufmunterungen erhalten.» Tatsächlich scheinen die Tifosi das strauchelnde Team unterstützen anstatt beschimpfen zu wollen.

Am Sonntag strömten Hunderte Ultras, einfache Fans und Familien nach einem Aufruf über die sozialen Medien zum Milan-Trainingszentrum. Mit Schlachtgesängen stimmten sie ihr Team auf das Inter-Duell ein. Die Spieler stellten sich den Anhängern erneut, klatschten und stimmten teils sogar in die Sprechchöre ein. «Wir gehen morgen auf das Feld, um unsere Saison zu drehen», sagte Mittelfeldspieler Sandro Tonali am Montag und verwies auf die deutlich verpasste Titelverteidigung in der Meisterschaft. Das Duell mit Inter könne bei der Bewertung der Saison «den Unterschied ausmachen», sagte er.

Inter in Topform – Hilft Rafael Leão?

Motivation allein dürfte gegen Inter freilich nicht reichen – ganz gegenteilig zum Stadtrivalen befindet sich die Truppe von Coach Simone Inzaghi nämlich derzeit in ihrer stärksten Saisonphase. «Das ist eines der wichtigsten Spiele in der mehr als 100-jährigen Geschichte Inters», unterstrich der Trainer. «Es fehlen noch 90 Minuten plus Nachspielzeit für unseren Traum.»

Abwehrchef Francesco Acerbi kündigte an: «Wir sind bereit. Das wird ein wunderschönes Spiel, das dir Adrenalin und diese richtige Art von Furcht einflößt.»

Um die Nerazzurri am Dienstag mit mehr als zwei Toren zu schlagen, braucht Milan ein kleines Fußball-Wunder. Für dieses soll unter anderem Rafael Leão sorgen: Der gefährlichste AC-Stürmer hatte im Hinspiel wegen einer Adduktorenverletzung gefehlt – und wie! Ohne den Außenbahnspieler fehlte der Mannschaft Geschwindigkeit, Gefahr bei Gegenstößen und vor allem Ideen in der Offensive. Nun soll der 23-jährige Portugiese rechtzeitig zum Showdown im ausverkauften San-Siro-Stadion wieder einsatzbereit werden. «Es geht ihm besser», berichtete Pioli vor dem Abschlusstraining am Montag und kündigte an: «Wenn er fit ist, dann spielt er von Anfang an.»

«Für Milan geht es um alles», titelte die «Gazzetta». Das gilt nicht nur für das Derby in der Königsklasse. Durch die jüngsten Patzer in der Serie A droht Mailand auch die ersten vier Tabellenplätze zu verpassen und damit die Qualifikation für die Königsklasse in der nächsten Saison. Ganz den branchenüblichen Mechanismen zufolge muss im schlimmsten Fall – klares Halbfinal-Aus gegen Inter und Verpassen der Champions-League-Plätze – Trainer Pioli um seinen Job fürchten.

Medien zufolge könnte dann möglicherweise sogar Paolo Maldini als Technischer Direktor ausgetauscht werden, eine Vereinslegende, die unter anderem fünfmal die Königsklasse gewonnen hatte. Für Milan steht viel auf dem Spiel.

Manuel Schwarz, dpa
Folge uns

Von