Hansi Flick beim ersten Gruppenspiel der deutschen Mannschaft in München. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Federico Gambarini/dpa)

Dieses Kardinalproblem wird auch Hansi Flick nicht mit einem Fingerschnipsen wegzaubern können. Ohne Stürmertore geht es nicht!

Das beweist die laufende Fußball-Europameisterschaft wieder nachdrücklich. Und die einstige Mittelstürmer-Nation Deutschland stand nicht erst beim frühzeitigen Achtelfinal-K.o. gegen England vorne drin blank da. Beim Blick auf die schon im November 2022 anstehende WM in Katar sieht es auch nicht gut aus. Der gefährlichste Angreifer in Joachim Löws 26-Mann-Kader war der zweifache Torschütze Kai Havertz – ein offensiver Mittelfeldspieler, keine Sturmkante.

«Killerinstinkt fehlt»

Oliver Bierhoff, Deutschlands Golden-Goal-Schütze beim EM-Triumph vor 25 Jahren im Wembley-Finale gegen Tschechien, sprach die Problematik als Nationalmannschafts-Direktor auch jetzt wieder an. Der 53-Jährige vermisst die eigenen Nachfolger schon länger. «Der Killerinstinkt fehlt», sagte Bierhoff am Tag nach dem 0:2 gegen England, als er mit Löw das nächste enttäuschende Turnier-Resümee ziehen musste. «Wir haben teilweise auch keinen Strafraumspieler mehr», lautete aus dem Munde von Bierhoff ein Grund für den deutschen Sturz ins Mittelmaß.

England hat als kantigen Zielspieler im Angriffszentrum Harry Kane (3 EM-Tore), Italien Ciro Immobile (2), Spanien Alvaro Morata (2). Die Dänen, neben den großen Drei der vierte EM-Halbfinalist, können in der Spitze Kasper Dolberg (3) oder den Leipziger Yussuf Poulsen (2) aufbieten. Weiter als Deutschland kamen weitere Nationen mit einem Knipser vorne drin; Tschechien mit dem Leverkusener Patrik Schick (5), die Belgier mit Brecher Romelu Lukaku (4) oder auch die Schweiz mit dem einstigen Frankfurter Haris Seferović, der dreimal traf.

Auch die ebenfalls schon im Achtelfinale gescheiterten deutschen Gruppengegner Portugal mit Cristiano Ronaldo (5 Tore) und Frankreich mit Karim Benzema (4) hatten zumindest erfolgreiche Stürmer im Team.

Der auch bei seinem dritten EM-Turnier torlose Angreifer Thomas Müller kritisierte am Montag aber auch die zaghafte Herangehensweise von Löw. Der Bundestrainer vertraute auf eine Abwehr-Dreierkette. «Mit unserer Bestrebung, durch eine eher abwartende, kompakte Defensivstrategie ohne Gegentor zu bleiben, sind wir de facto gescheitert», lautete das Urteil des 31-jährigen Münchners.

«Auf der einen oder anderen Position müssen wir nachlegen. Das müssen wir angehen», sagte Bierhoff, der allerdings nicht nur den Verband gefordert sieht. «Da muss sich der deutsche Fußball zusammentun.» Der DFB hat bereits begonnen, das Stürmerproblem in der Nachwuchsarbeit anzugehen. Doch Bierhoff weiß, dass solche Prozesse Zeit benötigen: «Das sind Maßnahmen, die nicht von heute auf morgen greifen.»

Flick lebte beim FC Bayern als Chefcoach anderthalb Jahre lang im Paradies. Da hatte er Robert Lewandowski, den aktuell weltbesten aller Mittelstürmer. Der Pole war für Flick fast eine Titelgarantie. Das Bayern-System als Blaupause – so simpel wird’s auch für den 56 Jahre alten Titelsammler Flick in DFB-Diensten nicht weitergehen.

Hummels sprach Problematik schon 2016 an

Das Mittelstürmer-Problem der Nationalmannschaft ist keines, das aus dem Nichts entstanden ist. Mats Hummels benannte es schon nach dem Halbfinal-Aus bei der EM 2016 gegen Gastgeber Frankreich. Als der damals gesperrte Verteidiger nach dem 0:2 in Marseille gefragt wurde, was besonders gefehlt habe, antwortete Hummels: «Es hat vor allem einer gefehlt, der den Ball reinschießt.» Übrigens: Frankreichs Matchwinner war vor fünf Jahren ein gewisser Antoine Griezmann. Er bezwang Manuel Neuer zweimal. Griezmanns Position ist im Angriff.

Deutschland, die Nation großer Mittelstürmer wie Uwe Seeler, Gerd Müller, Jürgen Klinsmann, Rudi Völler oder Bierhoff, fahndet seit dem Rücktritt von Rekordtorschütze Miroslav Klose nach dem WM-Titelgewinn 2014 in Brasilien nach einem klassischen Goalgetter. «Das beschäftigt uns schon seit längerer Zeit», sagte Bierhoff, der im Verband auch für die Nachwuchsteams verantwortlich zeichnet: «Das sind Trends, die ich nicht erst seit einem halben Jahr anspreche.»

Bobic kritisiert Ausbildung

Löw hatte jahrelang ein Faible für den Fußball Made in Spain, sowohl der spanischen Nationalmannschaft als auch des FC Barcelona. So wurde die falsche Neun auch bei der DFB-Auswahl zum Leitbild. Mario Götze verkörperte diese Rolle in Löws DFB-Welt, bisweilen auch Marco Reus. Götze schoss Deutschland und Löw 2014 zum WM-Titel, das wirkte nach.

«Wir haben jahrelange diese Halbstürmer ausgebildet, die auf allen drei Positionen spielen können, die als falsche Neun agieren können, das war schon immer ein grausames Wort», sagte Hertha-Geschäftsführer Fredi Bobic. Man habe in Deutschland vergessen, wie wichtig «ein klassischer Mittelstürmer, der groß sein muss, der den Ball halten muss, die dann immer die Tore machen», für ein Team sei. Er nannte als Paradebeispiel Englands Kane. «Das wirst du brauchen. Und die müssen wir wieder wachsen lassen», mahnte Bobic.

Flick wird bei seinem Start als Bundestrainer improvisieren müssen. Zum Beispiel mit Serge Gnabry, der bei ihm in München auf dem Flügel angriff. Er könnte auch auf Timo Werner setzen, der im Nationaltrikot einst als Mittelstürmer furios mit Toren loslegte, aber irgendwie vom Weg abkam. Dazu könnte ein Perspektivspieler wie Lukas Nmecha (22) kommen. Der 1,85 Meter große Mittelstürmer von Manchester City, der zuletzt an den RSC Anderlecht ausgeliehen war, ist immerhin in diesem Sommer mit der deutschen U21-Auswahl Europameister geworden.

Von Klaus Bergmann und Arne Richter, dpa
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