Tschechien steht nach dem überraschenden Sieg gegen die Niederlande im Viertelfinale. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Robert Michael/dpa-Zentralbild/dpa)

Fassungslos schlichen Kapitän Georginio Wijnaldum und seine düpierten Niederländer nach dem Aus bei der Fußball-EM in die Katakomben der Puskas Arena.

Patrik Schicks Tschechen hingen sich nach dem Sturz des Favoriten in Budapest noch auf dem Rasen Flaggen ihres Landes um und starteten ausgelassen Tanzeinlagen. «Das ist wirklich verrückt, dass wir ins Viertelfinale gekommen sind. Das hätte sicher niemand gedacht vor dem Turnier», meinte der überwältigte Schick nach dem überraschenden 2:0 (0:0), an dem ein ideenloses Oranje nach 35-minütiger Unterzahl scheiterte. «Wir haben gekämpft wie die Löwen.»

Die Niederländer waren nach dem K.o. schon im Achtelfinale dagegen am Boden zerstört. Wijnaldum stemmte seine Hände auf die Knie und verharrte mit vorgebeugtem Oberkörper lange auf dem Platz. «Das tut sehr weh, es ist schwer zu verkraften. Wir hatten einen kompletten Tag zum Vergessen», sagte der Mittelfeldspieler. «Nach der Roten Karte waren wir recht machtlos. Es ist ein sehr komisches Gefühl, weil ich den Eindruck hatte, dass wir im Turnier gewachsen sind.»

Trainer de Boer übernimmt Verantwortung

Nach einem Rot-Schock zerplatzte der vage Titeltraum. «Das ist ein sehr großer Rückschlag für uns», befand Nationaltrainer Frank de Boer. «Am Ende des Tages bin ich dafür verantwortlich.» Macht der Oranje-Coach mit Vertrag bis nach der WM 2022 weiter oder nicht? «Wir haben alle einen großen Kater und müssen gemeinsam darüber nachdenken», äußerte er.

Tomas Holes (68.) und Bayer Leverkusens Schick (80.) mit seinem vierten Endrundentreffer schossen den leidenschaftlich kämpfenden Außenseiter zum ersten Mal seit 2012 wieder ins Viertelfinale, wo am Samstag in Baku Dänemark warten.

In der 55. Minute hatte der niederländische Abwehrchef Matthijs de Ligt nach Videobeweis Rot gesehen. «Natürlich fühlt es sich schlecht an», räumte de Ligt ein. «Wir haben das Spiel im Grunde genommen wegen dem verloren, was ich getan habe.» Bezeichnend: Erstmals seit 1980 hat Oranje bei WM oder EM keinen Schuss direkt aufs Tor abgegeben.

Diskussion um Vielfalt und Gleichberechtigung

Zum Abschluss der Co-Gastgeberrolle von Budapest stand zunächst die Diskussion um Vielfalt und sexuelle Gleichberechtigung im Fokus. Ungarns Fußball-Verband hatte im Vorfeld die heimischen Fans zu Fairness aufgerufen. Verbandschef Sandor Csanyi bat die Zuschauer darum, die Nationalhymnen der jeweiligen Mannschaften nicht auszubuhen und «jegliche ausgrenzenden Äußerungen zu unterlassen». Zuletzt waren ungarische Anhänger mit rassistischen Äußerungen gegen Frankreichs Kylian Mbappé aufgefallen.

Kapitän Wijnaldum trug eine spezielle Armbinde mit der Aufschrift «One Love», womit die Mannschaft und er ein Zeichen gegen Ausgrenzung setzen wollten. Sponsoren unterlegten im Stadion ihre Bandenwerbung mit den Regenbogenfarben, zahlreiche der 52.834 Zuschauer hatten Utensilien wie Fächer in Regenbogenfarben dabei.

Kapitän Darida fehlte

Die Tschechen, die wegen einer technischen Panne an ihrem Flugzeug erst verspätet in Budapest angereist sind, mussten ohne ihren Stammkapitän Vladimir Darida von Hertha BSC auskommen. Der Mittelfeldspieler hatte sich im Training eine nicht näher genannte Verletzung zugezogen und wurde durch Tomas Soucek vertreten.

Dennoch war der nominelle Außenseiter ein ebenbürtiger Kontrahent im Duell des Gruppendritten gegen einen Gruppensieger. Die Tschechen hielten körperlich gut dagegen und hatten durch Soucek (22.) und Schick (28.) die ersten nennenswerten Chancen. Zudem stand die Abwehr sicher und stoppte die spielbegabten Memphis Depay und Co. mit großem Einsatz. Antonin Barak (38.) hatte gar die Halbzeitführung für die Tschechen auf dem Fuß, doch de Ligt vereitelte die Möglichkeit in höchster Not.

De Ligt muss vom Platz

Der Profi von Juventus Turin musste dann in der 55. Minute vom Platz, weil er als letzter Mann gegen Schick den Ball mit der Hand spielte und so eine Torchance verhinderte. Referee Sergej Karassjow zeigte Rot nach Videobeweis. Drei Minuten zuvor hätte die Niederlande in Führung gehen können nach einem sehenswerten Angriff von Depay und Donyell Malen. Doch Tschechiens Keeper Tomas Vaclik ließ sich nicht düpieren. Auf der anderen Seite blieb ein Schuss des Hoffenheimers Pavel Kaderabek (64.) am Fuß von Denzel Dumfries hängen.

Dann aber nutzten die Tschechen ihre Überzahl zur Führung. Einen Freistoß von Barak legte Tomas Kalas per Kopf auf Tomas Holes vor, der wuchtig einköpfte (68.). Als Reaktion darauf verstärkte Bondscoach de Boer die Offensive und brachte den Wolfsburger Wout Weghorst. Doch statt Weghorst war es Tschechiens Schick, der nach einem Konter zum 2:0 traf (80.) und mit seinem vierten EM-Tor den Außenseiter ins Viertelfinale schoss.

Von Martin Moravec und Martin Kloth, dpa
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