Deutschlands «Man of the Match» Robin Gosens (M) feiert mit Kai Havertz und Toni Kroos (r). (Urheber/Quelle/Verbreiter: Philipp Guelland/EPA Pool/dpa)

«Yes, yes, yeeeeeeeessssss!» Thomas Müller wollte seine Freude nicht zügeln. Die EM-Turbos Robin Gosens und Joshua Kimmich genossen mit ihren Kollegen und der Melodie längst vergessener Fan-Lieder noch im Ohr einen entspannten Tag der Pflege und Erholung im fränkischen Teamquartier.

Alles richtig gemacht, hätte sich auch Joachim Löw im Moment seiner kaum mehr erwarteten Renaissance als Turniertrainer sagen können. Am Personal 100 Prozent festgehalten, die umstrittene Taktik mutig offensiv modifiziert und das große Heer der Kritiker damit zum Schweigen gebracht. Chapeau!

Der Bundestrainer blieb aber nach der ersten EM-Party gegen Portugal und den gegen Deutschland schon wieder bedröppelten Cristiano Ronaldo der Sturkopf, für den ihn kurz vor der DFB-Rente ohnehin längst alle halten. Entspannung? Die will sich Löw gerade jetzt nicht leisten, wo der Plan für sein letztes Turnier doch rechtzeitig Wirkung entfaltet.

«Haben es selber in der Hand»

«Wir haben jetzt mal einen Sieg eingefahren. Das ist schön. Wir haben es selber in der Hand. Jetzt müssen wir gegen Ungarn nachlegen», forderte Löw. «Es gibt ja keine Tage, an denen man völlig runterfährt als Trainer. Der nächste Gegner steht an», sagte der 61-Jährige mit Blick auf das Gruppenfinale. Im wohl letzten Münchner EM-Heimspiel am Mittwoch (21.00 Uhr/ZDF und MagentaTV) gegen die furchtlosen Magyaren um den bestens aufgelegten Leipziger Torwart Peter Gulasci soll der verheißungsvolle Trend gleich bestätigt werden.

«Wo sind die Kritiker von Jogi und seiner Taktik?», fragte Lukas Podolski wie eine freundliche Stimme aus der erfolgreichen Vergangenheit und schickte ein virtuelles Herz zum DFB-Team. Sinnbildlich zur wieder beruhigten Stimmungslage um Löw hatte ein Gewitterregen im Teamquartier in Herzogenaurach die schwül-heiß aufgeladene Atmosphäre wieder auf erträgliche Maße reduziert.

Ein Punkt gegen Ungarn reicht

Mit seiner analytischen Nüchternheit passte Löw aber nicht in die große Jubelstimmung nach dem energiegeladenen 4:2-Sieg, mit dem die Fußball-Nationalmannschaft sich das Tor zum Achtelfinale bei der Europameisterschaft ganz weit öffnete. Ein Punkt reicht sicher für die K.o.-Runde. Ein Sieg könnte noch Platz eins in der Hammergruppe F bringen. Das schien noch vor dem Portugal-Spiel reine Utopie.

Von einem verfrühten bitteren Ende der Ära Löw redet nach dem wohl besten Turnierspiel seit dem WM-Triumph 2014 in Rio de Janeiro niemand mehr. Vier Tore in einem EM-Spiel gelangen in der langen DFB-Historie vorher in der regulären Spielzeit nur einmal beim 4:2 im Viertelfinale 2012 gegen Griechenland. Endspiel, London, 11. Juli, das ist wieder die Zielstation.

Wie groß nach vielen, vielen Monaten der Pandemie-Tristesse und den jüngsten sportlichen Demütigungen gegen Spanien (0:6) und Nordmazedonien (1:2) die Sehnsucht nach dieser locker leichten Euphorie bei den DFB-Stars und ihren Fans war, das entlud sich förmlich in der beschwingten Feierstimmung in der Münchner Arena. Die Party wurde auch zum Familienfest. Toni Kroos und Kimmich und auch andere Akteure freuten sich über einen corona-konformen Schwatz nach dem Spiel in der kurz aufgeweichten Turnierblase mit ihren Liebsten.

Kritiker widerlegt

«Oh, wie ist das schön», hätte auch Löw mitschmettern können. Alle Skepsis, alle Kritik nach der 0:1-Ernüchterung gegen Weltmeister Frankreich ist verschwunden. War das also die Initialzündung in ein rauschendes Fußball-Fest, um nicht zu früh den Begriff Sommermärchen zu strapazieren? Auch bei der WM 2006 sorgte der Glücksmoment des späten 1:0 gegen Polen im zweiten Gruppenspiel für den entscheidenden Funken nach vielen Zweifeln. Nein, meint Löw. «Bei einem Turnier heißt es, Schritt für Schritt zu gehen», betonte der Bundestrainer. «Das hat mit Initialzündung nicht so viel zu tun. Natürlich gibt so ein Erfolg eine gewisse Stärkung», fügte der 61-Jährige an.

Aber: Im Gegensatz zu Fans und Experten bis hin zu Liverpool-Trainer Jürgen Klopp war Löw ohnehin nie skeptisch, wie er beteuert. «Wir haben ja nicht gezweifelt, auch wenn wir gegen den Weltmeister mal verloren haben», sagte er. Seine nun fast schon legendäre Sturheit zahlte sich gegen Portugal aus. Sogar Kimmich muss einsehen, dass er auf der rechten Außenbahn am richtigen Ort war. Mit dem genialen Gosens war die maximal offensive Flügelzange das probate Werkzeug.

«Der Trainer entscheidet am Ende, wo er das Gefühl hat, dass die beste Mannschaft auf dem Platz steht. Das erwarte ich auch von jedem anderen, nicht nur von mir, dass er alles für den Teamerfolg in die Waagschale haut. Nur wenn wir das machen, können wir ganz weit kommen», sagte Kimmich. Gosens, sein kongeniales Pendant auf links, ist bei diesem Turnier schon ganz weit gekommen und der erste große deutsche EM-Gewinner – samt persönlichem Pokal.

Trophäe macht Gosens stolz

«Die Trophäe ist gigantisch. Wenn man zurückblickt auf den Weg, den ich gegangen bin, ist das unbeschreiblich. Das ist sicher einer der Abende, die ich nie in meinem Leben vergessen werde», sagte der nach seinen vier Torbeteiligungen vom UEFA-Biersponsor mit dem Cup als «Star des Spiels» ausgezeichnete 26 Jahre alte Turnierneuling.

Im Dreierangriff zahlte Kai Havertz neben Müller und Serge Gnabry als nun jüngster deutscher EM-Torschütze das Vertrauen zurück. Leroy Sané und Timo Werner müssen sich weiter hinten anstellen. Auch so war Kimmichs selbstlose Ansage zu Löws Personal- und Taktik-Hoheit zu verstehen. Wie wichtig die Ergänzungsspieler im Turnierverlauf noch werden können, deutete sich aber auch gegen Portugal schon an.

Mats Hummels (Knie), Ilkay Gündogan (Wade) und Gosens (Adduktoren) mussten angeschlagen runter. Niklas Süle in der Abwehrzentrale und besonders der selbst gerade genesene Leon Goretzka als Power-Option im Mittelfeld könnten schnell zu notwendigen Stützpfeilern werden.

Auch der Portugal-Coup konnte noch existierende Baustellen zudem nicht komplett übertünchen. Sinnbildliche Warnung waren die zwei Gegentore. Defensive Umschaltmomente wie bei Ronaldos erstem Tor gegen Deutschland und vor allem die Standard-Verteidigung beim zweiten Gegnertreffer durch Liverpools Diogo Jota demonstrierten dies. «Gerade Tore nach Standards, das begleitet uns schon länger. Das ist ein Thema. Wir müssen weiter dran bleiben», sagte Verteidiger Matthias Ginter.

Der grundsolide Gladbacher übernahm in Löws lustigem Fest-Ensemble die Rolle des Mahners und erinnerte an eine weiter mögliche Analogie zum WM-Debakel 2018 mit dem K.o. im Gruppenfinale gegen Südkorea (0:2). «Wir wissen aber auch, dass wir noch gar nichts erreicht haben», sagte Ginter: «Vor drei Jahren haben wir bei der WM auch das zweite Spiel gewonnen und sind trotzdem rausgeflogen.»

Von Arne Richter, Klaus Bergmann und Jens Mende, dpa
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